DAS PORTAL DER PSYCHIATRIEKRITIK

Geschichte der Irren-Offensive
(ursprünglich für die Ringvorlesung in der Universität Marburg am 26.11.1998)

Um die Geschichte der Irren-Offensive zu verstehen, muss sie im geschichtlichen Kontext erzählt werden. Und ich beginne früher, als vielleicht erwartet.

1933 tritt parallel zu den Nürnberger Gesetzen das Erbgesundheitsgesetz in Deutschland in Kraft. Beide hatten zum Ziel, einen Teil der deutschen Bevölkerung biologisch zu definieren und von der künftigen Entwicklung auszuschließen: Das Politische wird mit biologischen Lügen metaphorisch aufgeladen, um den alten Hass gegen die Unangepassten austragen zu können und der medizinisch-säkularen Herrschaft zum endgültigen Sieg zu verhelfen.

Zu Recht sagt Ernst Klee: „Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte die Nazis“. Insofern sollte man über eine Bezeichnung Chefarzt Prof. Dr. Hitler nachdenken, und die Universität wäre der richtige Platz dies zu tun.

1939 beginnt die Aktion T4, die systematische Erfassung und Ermordung von in den Psychiatrien Inhaftierten in der Gaskammer wird von der Tiergartenstr. 4 in Berlin in sechs Anstalten geplant und organisiert, auf kirchliche Proteste 1941 direkt in die Anstalten verlegt und das Personal, die Ideologie, die Technik, und die Verbrennungsöfen der Leichen 1942 zur Vernichtung der europäischen Juden ins besetzte Polen exportiert.

Trotz Ende des Krieges ging das Morden in den deutschen Anstalten bis ca. 1949 weiter: Das systematische Verhungern lassen zugunsten der Lebensmittelrationen des „medizinischen“ Personals ist belegt, allerdings nie geahndet worden, und ist als der perfekte Mord zu bezeichnen. Er steht am Anfang der bundesrepublikanischen Psychiatrie-Geschichte. Über die Karrieren der beteiligten Psychiater hat Ernst Klee sehr gut recherchiert, beispielsweise waren an der Universität Heidelberg noch bis in die 1990er Jahre damals als Assistenzärzte an der Mordaktion Beteiligte mit der Lehrebetraut.

Danach ist die Psychiatrie seelenruhig zu ihrem Zustand vor 1933 zurückgekehrt: radikale, systematische Entrechtung, Entwürdigung und Foltermethoden, um das Geständnis „psychisch krank“ zu erreichen, die sogenannte „Krankheitseinsicht“. Selbst Einige der ganz Wenigen, die den psychiatrischen Holocaust überlebten, werden wieder zwangsweise eingesperrt und mit Insulin und Elektroschocks misshandelt. Der ideologische Zusammenhang ist der Gleiche geblieben: die Bezeichnung als Erbkrankheit, das Wegsperren und mit aller Gewaltsamkeit das Privateste des Privaten, den eigenen Gedanken, berauben, stigmatisieren und einem entfremden.

Ich zitiere Thomas Szasz aus: „Interview with Thomas Szasz“ in The New Physician, 1969:

Schizophrenie ist ein strategisches Etikett, wie es "Jude" in Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muß man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den häßlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für "Müll"; sie bedeuten "nimm ihn weg", "schaff ihn mir aus den Augen", etc. Dies bedeutete das Wort "Jude" in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete "Ungeziefer", "vergas es".

Ich fürchte, daß "schizophren" und "sozial kranke Persönlichkeit" und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten "menschlicher Abfall", "nimm ihn weg", "schaff ihn mir aus den Augen".“

Selbst die Traditionen der Nazi-Psychiatrie werden gepflegt – wie an der Umbenennung der Wittenauer Heilstätten in Berlin in Karl Bonhoeffer Nervenklinik 1957 leicht zu erkennen ist: Karl Bonhoeffer war als eifriger Gutachter in NS-Erbgesundheitsgerichtsverfahren zu Zwangssterilisationen tätig und war sogar Richter am Erbgesundheitsobergericht. Er tat das alles so begeistert, dass er auch nach seiner Pensionierung damit fortfuhr. Diese Angaben hat inzwischen auf unser Drängen hin der Senat des Landes Berlin gegenüber dem Abgeordnetenhaus gemacht. Die Anstalt will den Namen noch heute behalten. (Dazu gibt es inzwischen eine Ausstellung: „The Missing Link“.)

Außer individuellem Bitten gab es keinen politischen Protest zu dem hermetischen System:

Ich zitiere Theodor Schwebig, wahrscheinlich 1905:

Hochgeehrter Herr
Landesvater!
Was soll ich schreiben?
Wie soll ich mich
ausdrücken? Ach! Oh!

Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte. Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!
Bitte, bitte, Hochgeehrter Herr und

König; eine
Gnadenstelle möchte
ich gerne haben.
Mit dem schönsten
oh, bitte um
verzeihung,.
da ich mit
Blei geschrieben,
denn es ist im
Falle der Noht geschehen.
Pität

Theodor Schwebig

1961 ist das entscheidende Jahr, in dem sich die Geschichte gewendet hat: Es ist das Erscheinungsjahr von Thomas Szasz‘s Buch „The Myth of Mental Illness“ und von Michel Foucault: „Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique“.

Szasz, als psychoanalytisch ausgebildeter Psychiater, und Foucault, als Soziologe und Philosoph, haben durch sich selber den Therapieunwilligen und Therapieresistenten zu Agenten im herrschenden System verholfen. Im Machtapparat der Wissenschaft hat sich der erste kaum sichtbare Spalt geöffnet, die erste notwendige Voraussetzung für seine Infragestellung, da beide Professoren waren und damit zwar als Außenseiter missachtet werden konnten, aber doch selber nicht als angeblich psychisch Kranke kaltgestellt werden konnten.

(Thomas Szasz wurde anlässlich seines 80. Geburtstags sogar von der eigenen Universität, die ihn seit den 1960er Jahren bekämpft hatte, als herausragender Wissenschaftler mit einem Symposium geehrt und sein besonderer Beitrag zur Kritik an der Zwangspsychiatrie wird nie mehr zu verdrängen sein.)

Der Krach im Machtapparat der Universitäten hat dann Ende der 1960erJahre zu dem politischen Boom des Antiautoritären geführt, das selbstverständlich auch zu einer Kritik der psychiatrischen Schlangengruben geführt hat, zunächst einmal jedoch eher theoretisch mit den Publikationen von Laing, Cooper, Goffman, Foudrain. Es gab einen italienischen Sonderweg: Um den Triester Psychiater Basaglia entwickelte sich eine Kritik der Institution, die zwar am traditionellen Krankheitsbegriff festhielt, allerdings gesetzliche Änderungen auf den Weg brachte, eben die katholische Variante, die den Papst auf seinem Thron ließ.

Die deutsche Psychiatrie entwickelte sehr flink Abwehrmaßnahmen: Mit der Psychiatrie-Enquete der Bundesregierung, deren Ergebnisse Mitte der 1970er Jahre veröffentlicht wurden, werden die Schleusen zur Mittelbeschaffung der Selbstversorgung der Versorger geöffnet und ein sektoraler bzw. gemeindenaher psychiatrischer Kontrollapparat entwickelt. Mit Hilfe-Rhetorik und christlichen „Nächstenliebe“-Projektionen aus dem Blickwinkel des psychiatrischen Gewaltmonopols sollten alle mal wieder in einem Boot sitzen, und an die Entrechteten und Beleidigten wurden Süßigkeiten verteilt – leichterer Zugang zu Frührente, psychosoziale Patientenclubs usw. –, auf die im Laufe der Zeit die Meisten reingefallen sind.

Diese Abwehr der Kritik traf in eine Zeit, als der universitäre Krach sich in viele avantgardistische Besserwissergrüppchen aufgespalten hatte– jeder Kommunist ist ja ein besserer Kommunist (Zitat von Fritz Lamm). Voraus ging das Ende des SDS. Aus Enttäuschung über die unerfüllten eigenen Bestrafungsbedürfnisse – Köpfe müssen rollen, sonst war es keine Revolution – wurde das „Phantasie an die Macht“ zu den Akten gelegt und nach unzufriedenen Bürgern Ausschau gehalten: denen von Wyhl. Die Natur sollte in Gefahr gekommen sein, als könnte sie vom Menschsein abgespalten werden, um dann den Menschen zu ihrem Feind erklären zu können – die Ökosophie ersetzte die Emanzipations-Hoffnungen, die Angst wurde wieder zum politischen Treibsatz und das Ganze verkaufte sich am besten mit Gesundheit, Healthismus – die Grünen begannen ihre Laufbahn in die Regierungsämter und sind in den Cerruti-Sakkos von Außenminister Joschka Fischer verschwunden. Keiner erobert die Macht, um eine Revolution zu machen, sondern man macht eine Revolution, um die Macht zu besetzen. Landläufig gesagt würde ich das die spießige Reaktion nennen.

In diesem Klima der Restauration findet 1980 die Gründung der Irren-Offensive statt.

Konstituierend sind die Bedingungen, dass ausschließlich für ver-rückt erklärte Menschen an den Entscheidungen beteiligt sind und dass Psychiatrie als Macht und Kontrollapparat sich so wenig wie möglich in der Gruppereproduzieren darf. Deshalb werden alle Entscheidungen in wöchentlichen Plenumssitzungen getroffen, bei denen jede/jeder, der/die sich selbst als psychiatrisch Verleumdete/r bezeichnet, gleichberechtigtes Mitglied ist. Die ersten Taten folgen schnell – es ist Hausbesetzerzeit in Berlin und ein leer stehendes Haus wird besetzt, soll zur Ver-rücktenburg werden, in der kommunikativ zusammengelebt wird und die einer Zwangseinweisung Entlaufenen als ein Versteck angeboten werden kann.

Durch die Übernahme der Druckkosten durch den Asta der Freien Universität Berlin (FU) konnte die Zeitung „Irren-Offensive“ in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt und unter die Leute gebracht werden. Die Gründung der Irren-Offensive hat in Deutschland sozusagen dem revolutionären Subjekt zu Selbstbewusstsein verholfen, ohne das die ganzen Bemühungen der psychiatriekritischen Akademiker im Sande verlaufen wären.

1983 geht diese erste Aufbruchsphase dadurch zu Ende, dass die besetzten Häuser geräumt werden, und die Irren-Offensive dem fruchtlosen Konflikt mit der Polizei durch Räumung des Hauses aus dem Weg geht und in der Folgezeit den Zwängen ausgesetzt ist, die staatliche Unterstützung mit sich bringt: also Gründung und Eintragung eines gemeinnützigen Vereins, Zuwendungsanträge verfassen, die Ausgaben alle überprüfen lassen usw. sowie, mit am gefährlichsten, einen nach außen rechtswirksamen Vorstand zu wählen.

Die Erfüllung dieser Voraussetzungen hat es uns dann ermöglicht, Mittel zu bekommen, um eine Wohnung im vierten Stock des ersten Hinterhauses in der Pallasstraße 12 zu bezahlen und im weiteren Verlauf sogar Betroffene einstellen zu können. Den damit verbundenen Gefahren dachten wir durch andere Gewohnheitsrechte begegnen zu können: Jede Woche tagt das Plenum und fällt nach den alten Kriterien und Regeln seine Entscheidungen, der Vorstand wird nur einmal im Jahr bei einer Mitgliederversammlung gewählt, um den Formalitäten Genüge zu tun, tritt aber danach praktisch nicht mehr in Erscheinung. Der kaum zu bewertende Vorteil dieses Vorgehens war, dass die Irren-Offensive sich stabilisieren konnte und trotz wechselnder Aktivisten zu einer Adresse wurde, die man sich merken konnte. Dazu kam die Zeitung, die durch die intensiven Verkaufsbemühungen von Werner Fuß zu einem Begriff im Westteil der Stadt wurde (Die bisher erschienenen 14 Ausgaben können als Sammelband bestellt werden).

Ein sehr wichtiges Thema wurde Ende der 1980er Jahre die Selbsttötung. Zwar kann man keinen mehr fragen, der sie erfolgreich begangen hat, aber sie hat doch trotzdem immer Gründe und keine Ursachen. Ob man diese Gründe teilen kann oder nicht, es bleibt eine Frage, inwieweit ich dem Anderen seine Entscheidungsfreiheit lassen möchte oder ob ich eben versuche, eine/n Freund/in durch Freiheitsberaubung daran zu hindern, und dafür das Risiko einer Strafanzeige in Kauf nehme.

Die Aussage der Irren-Offensive war immer, dass die gewalttätige Psychiatrie und ihre Entwürdigung und Entrechtung viel mehr Menschen dazu bringt, sich umzubringen, als wenn es sie nicht gäbe. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Ernest Hemingway. Ein weiteres Argument wiegt noch schwerer: Es gibt so etwas wie einen Preis der Freiheit, denn offensichtlich will zum Beispiel niemand mehr die Mauer und den Schießbefehl und das ganze SED Regime, obwohl es damals inklusive der Mauertoten weniger Ermordete gegeben hat, als heute durch die höhere Kriminalitätsrate. Auch das Autofahren oder Rauchen hat viele Jahre Lebensverkürzung zur Folge und trotzdem würden wir ein staatliches Verbot für völlig unzumutbar halten.

Die Frage rückte uns durch zwei Ereignisse sehr nahe: Ein von der Irren-Offensive Unterstützter und durch den Einsatz eines Rechtsanwalts wieder Freigekommener nahm sich kurz danach das Leben. Wäre dies durch konsequentes Einsperren nicht geschehen? Eine zermürbende Frage, die viele Selbstzweifel aufkommen lässt und keine Handlungsperspektiven eröffnet.

Das andere Ereignis im Zusammenhang mit Selbsttötung war die unerwartete Zusage, das Projekt Weglaufhaus durch eine Millionenspende zu verwirklichen. Der Vater eines Sohnes, dem sich in der Psychiatrie das Leben genommen wurde, wollte damit seinen Beitrag gegen das System leisten. Dabei hatten sich allerdings einige Grundübel noch einmal wiederholt bzw. verstärkt: Ein neuer Verein wurde gegründet, durch relativ hohe Zuwendungen sollte Geld zur Bezahlung von Stellen für den Betrieb reinkommen, und damit drohte das Ganze zu einer entpolitisierten sozialpädagogischen Hilfsmaßnahme zu werden. Die unterschiedlichen Konzepte prallten unversöhnlich aufeinander und in diesem Konfliktfall kam es zum Krach: Eine knappe Mehrheit konnte die Minderheit aus dem für das Projekt Weglaufhaus gegründeten Verein rausschmeißen. Die genauen Konfliktlinien sind in der Irren-Offensive Nr. 4 dokumentiert.

Damit sind wir bei einem unserer Hauptprobleme angelangt: Durch die totale Ohnmachtserfahrung, wenn das Privateste – die eigenen Gedanken – psychiatrisch für „krank“ erklärt werden, bereitet die Zusammenarbeit untereinander immer wieder große Schwierigkeiten. Diese totalst mögliche Entfremdung führt dazu, dass ein kleiner Machtzuwachs in der Gruppe schon wieder zu einer Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen führt, einer Hackordnung, die in der Absicherung und dem Ausbau dieses kleinen Machtzuwachses, diesem billigen Sieg über einen Peer, leicht das Ziel aus den Augen verliert: Dass die unterdrückenden und die Ohnmacht verursachenden Verhältnisse und Personen dafür verantwortlich gemacht werden müssen und eben politisch auf die Veränderung der Verhältnisse hingearbeitet werden muss. Die Bestechungsmöglichkeiten eines milliardenschweren Psycho-Gewerbes spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle und sind eine Gefahr, der schon Sigmund Freud erlegen ist. Kann man sich Armut und eine freie Meinung leisten ohne den Begehrlichkeiten eines luxuriöseren Lebens zu erliegen?

Es gibt aber auch Erfreuliches zu berichten:

Die Idee einer Irren-Offensive hatte sich in den 1990er Jahren auf zwei weitere Stützpunkte verteilt: Die Irren-Offensive Ruhrgebiet und die Irren-Offensive Marburg.

Wir konnten 1994 eine Fahrt in die USA unternehmen und hatten dabei insbesondere mit der großartigen Kate Millett einen heiteren und viele Ideen gebenden intensiven Meinungsaustausch. Außerdem besuchten wir die antipsychiatrischen Gruppen um New York und Washington. Diese Fahrt hat meiner Ansicht nach beim Senat (der sowieso sparen wollte, wo er nur konnte) unmittelbar im Anschluss daran, in einer spießigen Reaktion, zu einer totalen Sperre unserer Mittel geführt – deren genauerer Begründungsvorwand eine Extra-Geschichte ist. Die Abhängigkeit von den Zuwendungen haben wir daraufhin in voller Härte zu spüren bekommen: Der sonst inaktive Vorstand versuchte in Gehorsamkeitsgesten gegenüber dem Senat die Situation zu wenden, zog in dieser Krise die Macht an sich, missachtete Plenumsbeschlüsse und demontierte somit dieses Grundelement der Irren-Offensive. Es wurde über mehr als ein Jahr keine Mitgliederversammlung einberufen, die dies hätte korrigieren können, wir mussten die Räume in der Pallasstraße aufgeben. Ich kann diesen Zustand leider nur so beschreiben: Es war wie in einem Hühnerstall, in den ein Sylvesterknaller geworfen worden war. In diese Zeit fällt auch der Tod von Werner Fuß.

Eine Maßnahme 1995 war es deshalb, uns intensiv am Aufbau des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg (LPE B-B) zu beteiligen, und es gelang in der Satzung die folgende Aussage als eines der wesentlichen Ziele zu verankern: „auf die Abschaffung von Zwangsbetreuung Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen und das Verbot von E-Schockbehandlung (‚Elektrokrampftherapie‘) hinzuwirken“.

Außerdem konnten wir in engster Kooperation mit dem Landesverband unseren ersten öffentlichen T4-Umzug von der Gedenkplatte in der Tiergartenstr.4 zur nächsten Psychiatrie, der Charité, veranstalten. Dieser findet seither jährlich statt, 2010 schon zum 16. Mal, seit 2003 internationalisiert als Remembrance & Resistance Day.

Anfang 1996 gelang es, Spendenmittel aufzutreiben, und so konnten wir wieder eigene Räume in Berlin-Friedrichshain zusammen mit dem Landesverband beziehen; wieder in einem zuvor besetzten Haus, dessen Besetzer aber legalisierte Verhältnisse geschaffen hatten. Dort hatten wir zehn Jahre lang wesentlich günstiger gelegene Räume im Parterre mit eigenem Eingang und Fenstern zur Straße und wir, die drei dort beheimateten Vereinen– der Irren-Offensive, dem Landesverband und dem Psychiatrie-Beschwerdezentrum– einigten uns auf den Namen Werner-Fuß-Zentrum. (2004 ist statt des Psychiatrie-Beschwerdezentrums die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener eingezogen.)

Noch ein Wort zu dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Er erfüllt ein Kriterium der Irren-Offensive – ausschließlich Menschen mit der Erfahrung einer psychiatrischen Verleumdung können darin Entscheidungen fällen –, aber das deutsche Vereinsgesetz hat mal wieder zugeschlagen: Der Vorstand entbindet die Mitglieder von eigener Aktivität und die oben geschilderten Schwierigkeiten sind auf der Tagesordnung.

Tatsächlich ist der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener einerseits die größte Gefahr, die politische Kritik am psychiatrischen System wirkungslos zu machen, da sehr viele seiner Mitglieder ihre „Krankheits“-einsicht in den verschiedensten Formen wie eine Monstranz vor sich her tragen und gerade mit dieser Opferhaltung das System stabilisieren. Andererseits bietet der Verband selbstverständlich einen unmittelbaren Resonanzboden für die Bekanntmachung unserer Vorstellungen. Allerdings muss ich zugeben, dass es ein sehr mühsames Unterfangen ist, auf Krankheitseinsicht „abgerichtete“ Menschen von ihrem letzten „Liebesdienst“ abzuhalten, den sie ihren Unterdrückern bzw. Bestechern tun wollen – Ihre Dankbarkeit in Form einer Behandlungsvereinbarung mit der nächstliegenden geschlossenen Abteilung zu dokumentieren, die ohnehin nur eine sinnlose schriftliche Meinungsäußerung darstellen kann, denn die Psychiatrie kann für ihre menschenrechtsverletzende Gewaltanwendung einen öffentlichen Auftrag in Form von PsychKG und Zwangs-Betreuungsrecht vorweisen.

1998 möchte ich als Wendepunkt und in gewisser Weise als einen Höhepunkt der politischen Entwicklung der Irren-Offensive bezeichnen, der ein Ergebnis des über zwei Jahre vorbereiteten Foucault Tribunals zur Lage der Psychiatrie ist: Der ehemalige Vizerektor der Universität Marburg, Prof. Dietmar Kamper, hat in Zusammenarbeit mit Prof. Gerburg Treusch-Dieter, Prof. Klaus-Jürgen Bruder und Prof. Wolf-Dieter Narr mit uns und der Volksbühne dieses Tribunal zur Lage der Psychiatrie organisiert. Sie hatten sich dafür im Vorfeld sogar den Versuch eines Rüffels des Präsidenten der FU eingehandelt. Kate Millet aus den USA, Don Weitz aus Kanada und Hagai Aviel aus Israel in der Jury machten das Tribunal zu einem internationalen Ereignis. Ron Leifer vertrat kurzfristig den leider erkrankten Thomas Szasz als Ankläger und der Chefarzt der Bremer Psychiatrie, Peter Kruckenberg, führte die Verteidigung an. Alles ist dokumentiert und veröffentlicht im Film: „The Verdict of the Foucault Tribunal“. Wie das drei Jahre später folgende internationale Russell Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie, bei dem die „World Psychiatric Association“ aufgefordert wurde, sich zu verteidigen, und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, eine Grußadresse verlesen ließ, waren beide Tribunale sozusagen die „höchste Form“ politischen Theaters: Keiner der Akteure war Schauspieler, sondern sprach für sich selbst, und es ging um das tatsächliche Geschehen in der Zwangspsychiatrie, gerade eben um nichts Fiktionales. Um ein Tribunal im Namen Foucaults veranstalten zu können, war es allerdings sehr sinnvoll, dass es keine Gewalt gab, die das Urteil dieses Tribunals exekutierte, sondern nur die politische Öffentlichkeit und vor allem auch der Gesetzgeber aufgefordert wurde, zu reagieren.

Der Wendepunkt, den die Tribunale gebracht haben, ist, dass die Menschenrechte zum Mittelpunkt unserer Aktivitäten geworden sind.1 Deren Unteilbarkeit begründete die Urteile der beiden Tribunale und verschob den Schwerpunkt unserer Aktivitäten von einer Selbsthilfegruppe zu einer Organisation von Menschenrechtsaktivisten. Diese neue Orientierung wurde in der Satzung der Irren-Offensive festgeschrieben; und das kam so: Kurz nach dem Russell Tribunal fand 2001 in Vancouver die Gründungsversammlung für ein internationales Netzwerk von „Users and Survivors of Psychiatry“ dominierten Organisationen statt. Die „Israeli Association Against Psychiatric Assault“ und wir beantragten in den Entwurf der Satzung dieser neuen Organisation folgende menschenrechtliche Begründung aufzunehmen:

Wir rufen alle Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen auf, unser Grundrecht auf Selbstbestimmung als Personen, die unter der psychiatrischen Verfolgung, psychiatrischer Einsperrung und psychiatrischer Folterleiden, anzuerkennen. Hiermit erklären wir, daß:

1. Präambel

Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet,

da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen,

und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht (bestehend aus der Freiheit von willkürliche Inhaftierung, Folter und Tötung) und Freiheit von Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt,

da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen, nehmen wir die Greueltaten der systematischen psychiatrischen Massenmorde in den Gaskammern der „Aktion T4“, die 1939 als medizinisch-biologistische Kampagne in Deutschland angefangen hat, und der die Vernichtungslager in Polen folgten, als Ausgangspunkt für unsere folgende Menschenrechtserklärung.

Wir betonen, daß die Niederlage dieser barbarischen Taten, dem schlimmsten Fall in der Geschichte von Entmenschlichung und Verstößen gegen gesellschaftliche Grundnormen, 1948 nach den Nürnberger Prozessen auch die Grundlage für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen war.

2. Deshalb:

A) Ein Mensch wird von einem anderen Menschen geboren

B) Es ist unmöglich zwischen den Menschenrechten eines Menschen gegenüber denen eines anderen zu unterscheiden, egal wie außergewöhnlich er aussehen und denken oder wie auch immer er seine Gedanken ausdrücken mag.

C) Hiermit betonen wir, daß die Artikel der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen die Grundlage sind, um die grundlegenden Menschenrechte zu bestimmen

D) Hiermit erklären wir, daß wir den Gebrauch von psychiatrischen Begriffen als medizinische Verleumdung, als biologistisch-rassistische Diskriminierung betrachten, insbesondere wenn es darum geht, das Verhalten eines Menschen als eine genetische oder geistige „Krankheit“ zu bestimmen

E) Hiermit erklären wir als eine Art Folter: psychiatrische Verfolgung, willkürliche psychiatrische Einsperrung und körperlichen psychiatrischen Zwang zum Eindringen in den Körper – Behandlung mit Drogen, Elektroschock, Psychochirurgie, Fixierung u.a. Diese Maßnahmenwurden seit Bestehen der Zwangspsychiatrie immer und immer wieder von Menschen überall auf der Welt als Folter bezeichnet, unabhängig davon, ob jemand von medizinischem Personal als „geschäftsunfähig“ bezeichnet wurde und der Ort dieser Maßnahmen eine „medizinische Einrichtung“ namens „Krankenhaus“ sein soll.

F) Basierend auf den vorigen Argumenten, erklären wir hiermit psychiatrischen Zwang als „Furcht“ („Fear“), wie sie in der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen definiert ist. Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit von Furcht.

G) Wir erkennen eine Psychiatrie, die auf Zwang und Gewalt basiert, als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, da sie Individuen den Status eines Menschen mit seinen unveräußerlichen Menschenrechten vorenthält, indem sie deren Seele auf eine biologisch-medizinische Weise als„krank“ bezeichnet und von einer biologisch-medizinischen „geistigen Krankheit“ spricht, und damit juristisch alle Arten von Gewalt gegen sie rechtfertigt.

H) Wir bestreiten, daß die Generalversammlung der UN das Recht hat, einen Teil der Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft davon auszuschließen, als Menschen anerkannt zu werden, indem sie diese psychiatrische biologisch-rassistische Doktrin unterstützt. Deshalb appellieren wir an alle Völker der Welt, die UN-Resolution Nr. 46/119 vom 17. Dezember 1991 abzuschaffen. Diese Resolution verstößt gegen die Grundprinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen von 1948. Diese Resolution ist ein Angriff auf die menscheneigene Würde aller Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft und ihre gleichen und unveräußerlichen Rechte, der Basis für Freiheit und Gerechtigkeit.“

Leider scheiterten unsere Bemühungen, mit einer einfachen Mehrheit der Gründungsversammlung diese Erklärung zu einem Teil der Satzung zumachen. Die Erklärung erschien offenbar vor allem amerikanischen Organisationen so „utopisch“, dass sie es vorzogen, eine Organisation ohne menschenrechtliche Festlegung in der Satzung zu gründen. Sie meinten, dass sie angeblich eine solche Erklärung in ihren eigenen Satzungen nicht verabschieden könnten und schlugen arrogant vor, dass wir diese Erklärung erst in unsere eigene Satzung aufnehmen müssten, bevor wir eine solche Erklärung für eine internationale Organisation fordern könnten. Resultat: Sogar die Abstimmung über eine kurzfristig einzurichtende Arbeitsgruppe, die eine menschenrechtliche Erklärung für die Satzung hätte erarbeiten können, wurde von der Versammlungsleitung untersagt; unser Vertreter in der Versammlung wurde hinaus gebeten, worauf wir diese Gründungsversammlung verließen, aber:

Sowohl wir wie auch die „Israeli Association Against Psychiatric Assault“ nahmen noch im selben Jahr diese erklärende Festlegung in unsere Satzungen auf.

Die Erklärung wurde von Hagai Aviel als Petition an das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte online veröffentlicht und inzwischen von über 900 Personen öffentlich unterzeichnet.

Wir gründeten ein Jahr später in Basel die „International Association Against Psychiatric Assault“ mit dieser Erklärung in der Satzung und einer nach Schweizer Recht verbindlichen Mitgliederversammlung als Internet Chat alle paar Wochen. So konnten wir eine von jeglichen fremden Finanzhilfen – weil ohne Reisekosten – unabhängige und demokratische internationale Organisation aufbauen, die inzwischen zum Beispiel vier englische und deutsche Ausgaben ihrer Zeitschrift „Zwang“ veröffentlichen konnte und Mitglieder aus 16 Ländern von vier Kontinenten vereint. Logischerweise steht diese Organisation mit menschenrechtlicher Zentrierung allen Menschen offen, die die Satzung akzeptieren, ohne eine Selbstbezichtigung von „Psychiatrie-Erfahrung“ zum Kriterium für Mitgliedschaft zu machen (www.IAAPA.ch). Damit war der Übergang der Irren-Offensive von einer lokalen Selbsthilfegruppe zu einer politischen Organisation pro Menschenrechte mit internationaler Einbindung vollzogen.

Wie richtig und nicht-utopisch die Konklusion unserer erklärenden Festlegung in Punkt H) war, wurde am 29.1.2009 endgültig offenbar, als das UN Hochkommissariat für Menschenrechte in einer Erklärung zur 2007 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Behindertenrechtskonvention Folgendes veröffentlichte: „Bevor die Konvention in Kraft getreten ist, war die Existenz einer geistigen oder psychischen Behinderung im Rahmen internationaler Menschenrechte ein rechtmäßiger Grund für die Entziehung der Freiheit und Einsperrung. [Fußnote: Siehe als Verweis die „Grundsätze für den Schutz von Personen mit psychischen Erkrankungen und der Verbesserung der psychischen Gesundheit“, A/RES/46/119, damals im Internet unter: www.un.org/documents/ga/res/46/a46r119.htm] Das Übereinkommen wendet sich radikal von diesem Ansatz dadurch ab, dass jeder Freiheitsentzug auf der Grundlage der Existenz einer Behinderung, einschließlich einer psychischen oder geistigen Behinderung, als diskriminierend verboten ist. In Artikel 14 Absatz 1(b) des Übereinkommens heißt es unmissverständlich, dass „das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsberaubung rechtfertigt“.2

Ohne in Anspruch nehmen zu wollen, dass wir die Gemeinschaft der Völker belehrt hätten, ist es aber richtig zu sagen, dass wir mit dem festen Glauben an das, was unteilbares Recht ist, das Richtige getan haben und dass das inzwischen auch von der Gemeinschaft der Völker verstanden wird.

Obwohl wir im Selbstbewusstsein bester Avantgarde viele hinter uns gelassen hatten, viele brüskierten, man könnte in gewisser Weise sogar sagen, uns isoliert hatten und uns eben nicht auf Anzahl oder finanzielle Mittel, sondern mit relativ Wenigen auf die politische Aktion, die Moral und die Kraft des aufklärenden Worts verlassen haben, wurde diese Wende die Basis unserer anschließenden Erfolge (oder in den Worten von Prof. Dietmar Kamper: „Von der Hermeneutik zur Hermetik zum Hermes“):

1998 bauen wir zusammen mit dem LPE B-B ein bundesweites Rechtsanwältenetz auf.

1999 inaugurieren wir an der FU einen „Lehrstuhl FÜR Wahnsinn“, der zwar etwas vagabundierend schwer zu lokalisieren ist, über den aber sogar überregional, z.B. am 12.8.1999 in der Frankfurter Rundschau auf Seite 1, berichtet wird. Die Zusammenarbeit mit Prof. Bruder und die lebhafte Beteiligung der Psychologie-StudentInnen der FU ist dabei besonders erwähnenswert – traurig die Abwehr der Philosophie in der FU. Schließlich hat kein geringerer als Michel Foucault ihn als erster schon Anfang der 1950er Jahre mit sich selbst als Lehrstuhlinhaber proklamiert. (www.irrenoffensive.de)

Ebenfalls Sommer 1999: „Rolling Nuts hit the Mental Health Machine“ mit internationalen Teilnehmern machen wir eine Tour durch Deutschland zu vier der sechs T4-Gasmordzentren und konfrontieren uns anschließend mit dem elften Weltkongress der Psychiatrie in Hamburg, der die absolute Ungeheuerlichkeit eines Geschichtsrevisionismus begeht – so als sei nichts gewesen – die deutsche Psychiatrie wieder international anzuerkennen. (www.irren-offensive.de)

Durch einen glücklichen Umstand entdecken wir im Herbst 1999, dass eine neue Gesetzgebung in Kraft getreten war, die gerade auch im sogenannten „höchstpersönlichen Bereich“ eine wirksame Bevollmächtigung, die so genannte „Vorsorgevollmacht“, nicht nur erlaubt, sondern ihr sogar den Vorrang gegenüber der staatlichen Verwaltung durch einen irreführend „Betreuer“, genannten Vormund, einräumt.

Nach unserer Meinung gehört zu der Psychiatrie identitätsstiftend der Zwang. Durch das Nadelöhr einer bestimmten Vorsorgevollmacht (der Vo-Vo) konnte man sich in der BRD nun psychiatrischer Gewalt rechtswirksam entziehen und damit seinen Unglauben an die Existenz einer angeblichen „psychischen Krankheit“ dokumentieren. Zwar wurde von Richtern in Zusammenarbeit mit der Psychiatrie versucht, die Uhren rückwärts zu drehen und gegen eine Vorsorgevollmacht zum Beispiel eine so genannte „Vorratsbetreuung“ – eine präventive Entmündigung – einem ihrer Opfer aufzuzwingen oder zu behaupten, dass ein Bevollmächtigter dann ungeeignet sei, wenn er nicht bereit ist, den Willen des Bevollmächtigenden zu brechen, sondern zusichert, sich an den Willen des Bevollmächtigenden zu halten. Juristisch ist das eine besondere Absurdität, denn die Erfüllung des Willens des Vollmachtgebers ist die einzige Logik einer Vollmacht. Solchen hinterhältigen und rechtlich absurden Volten der Justiz musste der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben, und er tat dies mit dem Patientenverfügungsgesetz am 18.6.2009. Endlich wurde gesetzlich nicht nur klargestellt, wer einen in höchst persönlichen Fragen, insbesondere Fragen der medizinischen Behandlung, mit Vertrauen stellvertreten kann, sondern auch, dass eine solche Vorausverfügung in allen Phasen bei allen Krankheiten Gültigkeit hat. Der Staat hatte 1999 an einer Stelle sein „therapeutisches“ Privileg aufgegeben, durch Ärzte entscheiden zu lassen, welche Erwachsenen aus vorgeblich „medizinischen Gründen“ festgehalten und mit legalisiertem Zwang und legalisierter Gewalt körperverletzt werden können – um ihnen zwangsweise bewusstseinsverändernde Drogen oder Elektroschocks mit jeweils schweren Nebenwirkungen zu verabreichen. Damit war die Zwangspsychiatrie dem Untergang geweiht; denn wenn auch nur eine Minderheit sich gegen psychiatrische Gewalt erwehren kann, dann wird damit offenbar, dass es sich bei dem ganzen Konstrukt von „psychischer Krankheit“ nur um ein Glaubensdogma handelt. Dieses Dogma kann nun zu seiner Legitimierung keine wissenschaftliche „Objektivität“ mehr beanspruchen, weil die Minderheit der Ungläubigen nur mit einem Stück Papier bewaffnet erfolgreich beweist, dass sie ohne Glauben an die Existenz von „psychischer Krankheit“ diese „Krankheiten“ nicht mehr bekommen kann, und somit offensichtlich nur von dem Gewaltapparat der Nomenklatur des Folter- und Kerkersystems Psychiatrie deren Schein-Existenz vorgegaukelt wird. Mit ihrem alltäglichen Leben beweisen diese Ungläubigen, dass es kein psychiatrisches Wissen gibt, keine Psychiater, keine Therapeuten– sondern nur Priestern einer Religion ergebenst gedient wird, die sich inquisitorischer Mittel bedienen können.

2003 gelingt dann der meines Wissens erste erfolgreiche Durchbruch gegen eine Kampagne der Zwangspsychiatrie – die ambulante Zwangsbehandlung. In Amerika seit Anfang der 1990er Jahre flächig gesetzlich abgesichert, wurde anlässlich der zweiten Betreuungsrechtsreform 2003 ein entsprechender Gesetzentwurf wie ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert, um gleich vom Bundesrat einmütig verabschiedet zu werden. Obwohl zu Anfang alle Parteien dafür waren, gelang es uns, eine politische Gegenkampagne auf die Beine zu stellen, die mit acht Demonstrationen, Pressearbeit und einem Rechtsgutachten von Rechtsanwalt Thomas Saschenbrecker innerhalb von dreieinhalb Monaten die Unvereinbarkeit des Vorhabens mit dem Grundgesetz bekannt machen konnte, und das dann plötzlich weder die Bundesregierung noch irgendeine der Parteien mehr wollte – ein weltweit einmaliger Erfolg, der die Bemühungen um gesetzliche Regelungen ambulanter Zwangsbehandlung in ganz Europa nahezu zum Erliegen brachte. Der psychiatrische Imperialismus war gebrochen.

Aufs Peinlichste scheiterte 2005 auch der zweite Anlauf, doch noch die ambulante Zwangsbehandlung über die Ländergesetzgebung versuchsweise in Bremen durchzudrücken, weil dabei sogar der einflussreiche Klinikchef Prof. Peter Kruckenberg im „Dissidentenfunk“ öffentlich zugab, dass sich die Psychiatrie jahrzehntelang nicht um die gesetzlichen Kriterien für Zwangseinweisungen geschert hatte. Seitdem ist das psychiatrische Imperium – zumindest in der BRD – in der Defensive.

2007 gelingt es uns, einen internationalen Kongress der World Psychiatric Association (WPA) zur Perfektionierung von Zwangsbehandlung in Dresden zu einem völligen Desaster für dessen Veranstalter zu machen. Insbesondere durch die Einladung von Gert Postel in den größten Saal des Rathauses können wir zur Lächerlichmachung der Psychiatrie mehr Besucher bei unserer Veranstaltung begrüßen, als dieser Kongress aus der ganzen Welt vorzuweisen hatte, und wir können die gesamte Medienaufmerksamkeit von „Bild“ bis Fernseh-Nachrichten auf uns ziehen.

Inzwischen (2010) ist die in der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde“ (DGPPN) organisierte Psychiatrie durch das Patientenverfügungsgesetz und insbesondere die PatVerfü® rechtlich in Bedrängnis gekommen, und ihre Reputation ist durch die Behindertenrechtskonvention ruiniert – können wir jetzt doch rechtlich gut begründet öffentlich demonstrieren, dass „Psychiater – staatlich geschützte– Verbrecher“ sind.

Als letzte Zuflucht hat sich die DGPPN ein Gefälligkeitsgutachten von Prof. Olzen gekauft, und selbst er muss zugestehen, dass Zwangsbehandlung gegen den in einer Patientenverfügung dokumentierten Willen strafbare Körperverletzung ist – Resultat: Die Krankenkassen zahlen nichts für Gefängnisaufenthalte und damit scheitert auch die zwangsweise Unterbringung genannte Einsperrung, weil sie keine „Heilungsaussicht“ mehr hat.
Die Therapieresistenten haben gewonnen.


Anmerkungen

1. Der unmittelbare Anlass, sozusagen Auftakt, war, dass am 30. April 1998 bei dem ersten Jurytreffen Kate Millett die offene Frage, nach welchen Gesetzen denn die Jury des Tribunals entscheiden wolle, um nicht einfach nur selbstgefällig zu sein, auch gleich zusammen mit Hagai Aviel beantwortete: mit den Menschenrechten, wie sie 1948 von der UN verkündet wurden. Entsprechend wurde am nächsten Tag am Anfang des Tribunals die Anklage verlesen und an das Publikum in der Volksbühne verteilt.

2. Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen „Zur Verbesserung der Sensibilisierung und dem Verständnis der Behindertenrechtskonvention


Diese wahre Geschichte wird von René Talbot erzählt, einem langjährigen Menschenrechtsaktivisten in der Irren-Offensive.
Veröffentlicht auch im Buch "Irren-Offensive - 30 Jahre Kampf für die Unteilbarkeit der Menschenrechte", Verlag AG SPAK BÜCHER

 

"Geisteskrankheit gibt es nicht - die Irren gehen in die Offensive"
Interview im Jugendtugendmagazin "Ätzettera"

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